Podiumsdiskussionen in Zürich, Andelfingen und Wädenswil
ZÜRICH
DIE MACHT DER BILDER
Am 27. März 2019 fand vor vollen Reihen im Volkshaus Zürich die von UEK-Mitglied Beat Gnädinger moderierte Podiumsdiskussion «Macht der Bilder» statt. Die Zeitzeugin Marilies Birchler, der Fotograf Jos Schmid, die Historikerin Mirjam Häsler und der Historiker Stefan Länzlinger gingen den Fragen nach, wie man sich von Menschen ein Bild macht und was Bilder als historische Quellen bedeuten. Im Anschluss beteiligte sich das Publikum lebhaft mit eigenen Fragen an der Diskussion.
Der Entstehungsprozess der Fotografien im UEK-Band «Gesichter der administrativen Versorgung»
Der Fotograf Jos Schmid und die Zeitzeugin Marilies Birchler, die von Jos Schmid für den ersten UEK-Band «Gesichter der administrativen Versorgung» fotografiert worden war, erzählten gemeinsam vom Entstehungsprozess dieser Porträts. Jos Schmid nahm alle 50 im Buch abgebildeten Personen – die Anzahl entspricht auch derjenigen der fotografierten Personen – in deren Zuhause vor einem weissen Hintergrund auf. Seine ursprüngliche Idee einer gleichförmigen Serie verwarf er bald wieder, wollte er doch eine «Opferserie» vermeiden und die Kraft der unterschiedlichsten Personen, die eine Versorgung erlebt hatten, zeigen.
Marilies Birchler fühlte sich beim Fototermin zunächst unsicher, sie wusste nicht wohin sie schauen und ob und wie sie sich bewegen sollte. Sie entspannte sich jedoch schnell und merkte gar nicht, wenn Jos Schmid abdrückte. Das Gefühl, «ungeschützt» zu sein, verflog. Sie bezog den Titel «Macht der Bilder» nicht nur auf ihre Fotografien, sondern erwähnte, dass sich die Leute seit ihrer Kindheit von ihr ein negatives Bild machten. Diese negativen Bilder fanden Eingang in Akten und verhinderten, dass Marilies Birchler ein positives Selbstbild entwickeln konnte. Wenn ihr später im Leben jemand eine positive Rückmeldung gab, habe sie lange gedacht, da könne doch etwas nicht stimmen. Erst allmählich habe sie gelernt, zu Menschen Vertrauen aufzubauen.
Bilder aus Akten und Bilder als historische Quellen
Die wissenschaftliche Mitarbeiterin der UEK Mirjam Häsler schlug den Bogen zu den Textporträts, die der Band «Gesichter der administrativen Versorgung» ebenfalls beinhaltet. Sie gab Einblick in die nötigen Arbeitsschritte, bis eine Historikerin aus verschiedenen Akten ein Bild einer Person zeichnen kann. So machen sich heutige Leserinnen und Leser aufgrund eines Textes ein Bild einer Person, die in der Vergangenheit gelebt hat. Am Beispiel eines Mannes, der während 17 Jahren in den Anstalten von Bellechasse FR interniert war und in den 1950er Jahren auf der Flucht aus dieser Institution starb, betonte Mirjam Häsler, dass sich Forschende oftmals nur aufgrund eines Blickes von aussen den Lebenslauf einer Person rekonstruieren können. In diesem Fall konnte der Internierte weder lesen noch schreiben. Das Bild, das im Text nun von ihm festgehalten ist, entstand ausschliesslich aufgrund der Akten, welche die Behörden über ihn angelegt hatten. Wie ein Foto entfalten auch Akten eine grosse Macht und haben Auswirkungen auf das Leben der Menschen, die sie betreffen.
Stefan Länzlinger vom Sozialarchiv Zürich ergänzte diese Überlegungen um die Ausführungen, warum Bilder wichtige historische Quellen sind. Im Sozialarchiv mit seinem Sammlungsschwerpunkt auf visuellen Quellen befinden sich keine Fotografien zur administrativen Versorgung. Dies dürfte damit zusammenhängen, dass Fotos zu dieser Thematik nur aus zwei Gründen entstanden: Erstens hielt man den Polizeiblick fest und fotografierte Leute, um sie bei einem späteren möglichen Vergehen zur Fahndung ausschreiben zu können. Zweitens existierten seit den 1930er Jahren Fotos aus journalistischen Reportagen wie beispielsweise jene des Fotografen Paul Senn. Diese Fotos sollten die Opferperspektive aufzeigen. Zum UEK-Porträtband äusserte sich Stefan Länzlinger positiv und würdigte, dass die erste Publikation die betroffenen Personen ins Zentrum rückt. Dem Umstand, dass in diesem Buch die Stimme der Betroffenen fehlt und die Bilder von Aussenstehenden gezeichnet werden, werden die nächsten Veröffentlichungen begegnen.
FREMDPLATZIERT IM ZÜRCHER WEINLAND
Während die Ausstellung in der Stadt Zürich zu sehen war, diskutierte ein breites, lokal verankertes Publikum auch auf dem Land über fürsorgerische Zwangsmassnahmen. In Andelfingen fanden sich 28. März 2019 zahlreiche Interessierte zum Podiumsgespräch über Fremdplatzierungen im Züricher Weinland ein.
Fremdplatzierungen gestern und heute
Die Moderatorin Silvia Müller von der Andelfinger Zeitung hob in ihrer Einführung zum Abend hervor, wie breit das System der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen war. Sie sprach sich für ein breites Verständnis von Betroffenheit aus und bat die Anwesenden, die Hand zu heben, wer jemals direkt oder indirekt – beispielsweise über Familienangehörige älterer Generationen, aufgrund geographischer Nähe zu Institutionen oder aus beruflichen Gründen– mit Fremdplatzierungen in Kontakt gekommen war. Wenig überrascht zeigte sie sich, als die Mehrheit der Hände hochgingen.
UEK-Mitglied und Zürcher Staatsarchivar Beat Gnädinger legte die jüngste Diskussion über fürsorgerische Zwangsmassnahmen dar, erläuterte die Versorgungsgründe sowie die Ziele der Einweisungen und stellte die Forschungsarbeiten der UEK vor.
Nach diesen historisch einführenden und gesellschaftspolitischen Erläuterungen hatten zwei Frauen das Wort, die als Kinder im Zürcher Weinland fremdplatziert worden waren. Heidi Ambiel-Etter erzählte von ihrer Odyssee durch verschiedene Schweizer Institutionen und Familien. Vor einem Jahr ersuchte sie um Akteneinsicht. Zur Beschreibung für den emotional aufreibenden Umgang mit der schmerzhaften Vergangenheit brauchte Heidi Ambiel-Etter ein sprechendes Bild: Sie vakuumiere ihre Erinnerungen in kleinen Päckchen, die sie in einer Schublade versorgt. Ab und zu könne sie eines hervornehmen und auspacken, es liesse sich danach aber wieder versiegeln und versorgen.
Marlies Landolt wurde als uneheliche Tochter einer minderjährigen Mutter zunächst in ein Züricher Kinderheim gegeben und anschliessend von einem Ehepaar aus der Nähe von Andelfingen adoptiert. Zögerliche Kontaktversuche mit ihrer leiblichen Mutter liess sie bald wieder bleiben. Bei deren Tod stellte Marlies Landolt fest, dass ihre Mutter sie lebenslang verleugnete: Ihre Mutter hielt im Testament fest, keine eigenen Nachkommen zu haben.
Karin Fischer, die Leiterin der KESB Winterthur Andelfingen, schlug den Bogen von diesen vergangenen Fremdplatzierungen in die Gegenwart. Sie erläuterte die Funktionsweise ihrer Behörde. Als Hauptunterschied von damals zu heute hob sie hervor, dass man heute versuche, den Betroffenen von Anfang an zuzuhören. Ging es früher vornehmlich darum, die Menschen für die Gesellschaft konform zu machen, stehe heute der Schutz des Individuums im Vordergrund.
WÄDENSWIL IN DER ANSTALTSLANDSCHAFT SCHWEIZ
Am Anlass in Wädenswil vom 31. März 2019, den die UEK mit Unterstützung der Historischen Gesellschaft Wädenswil organisierte, stand ein lokales Beispiel im Vordergrund. Ausgehend vom lokalen Waisenhaus und Jugendheim entspannte sich dann ein Gespräch über die Anstaltslandschaft Schweiz.
Lokal – national
Nach einführenden Worten des Wädenswiler Stadtpräsidenten Philipp Kutter und von Christian Winkler von der Historischen Gesellschaft Wädenswil erläuterte UEK-Mitglied und Historikerin Loretta Seglias das umfassende System fürsorgerischer Zwangsmassnahmen, das sich in einer Gesellschaft mit einem engen Normenkorsett etablierte. Sie erwähnte den Aufarbeitungsprozess und betonte, dass seit den 2000er Jahren das Engagement von Betroffenen die wissenschaftliche und politische Aufarbeitung anstiess. In deren Zuge setzte der Bundesrat die UEK ein.
Der Schulsozialarbeiter und Mitarbeiter der Guido-Fluri-Stiftung Bruno Frick, der zu Beginn der 1980er Jahre eine pädagogische Lizentiatsarbeit zum Wädenswiler Waisenhaus verfasst hatte, präsentierte das lokale Beispiel. Auch wenn er betonte, dass seine damaligen Recherchen auch positive Stimmen zur Institution zutage förderten, überwogen doch die negativen Erinnerungen. Viele ehemalige dort platzierte Kinder erinnerten sich an ein brutales Heimelternpaar, das strenge Strafen verhängte. Im Verlauf der Jahre und insbesondere seit Ende der 1960er Jahre milderten sich jedoch die Strafen.
Dieses lokale Beispiel ist ein Element in einem nationalen Ganzen. Der wissenschaftliche Mitarbeiter der UEK und Zuger Staatsarchivar Ernst Guggisberg präsentierte im Gespräch mit Loretta Seglias das Portal Anstaltslandschaft Schweiz, das auf quantitativen Erhebungen beruht. Man schätzt, dass mehrere Zehntausend Personen in der Schweiz fremdplatziert waren. Aus den Verzeichnissen, die für die Recherche zur Verfügung standen, identifizierte das Team um Ernst Guggisberg schweizweit rund 648 Anstalten. Aufgrund der lückenhaften Quellenbasis muss die Gesamtzahl jedoch höher sein. Ziel der auf dem Portal präsentierten Visualisierungen war, das Ausmass administrativer Versorgungen in der Schweiz aufzuzeigen.
Medienecho zur Station Zürich
Tages Anzeiger (25.03.2019): «Man soll mich einmal dort lassen, wo ich will»
Andelfinger Zeitung (02.04.2019): Menschen und Schicksale hinter «administrativen Zwangsmassnahmen»
Andelfinger Zeitung (16.03.2018): Das Verdingkinder-System blühte auch in Weinländer Dörfern
Der Landbote (26.03.2019): Als Baby den Eltern entrissen
Der Landbote (30.03.2019): «Als zweitklassiger Mensch gefühlt»
Zürichsee Zeitung (29.03.2019): «Immer mehr Betroffene haben ihr Schweigen gebrochen»
Während einer Woche stand die Ausstellung in Baden auf dem Unteren Bahnhofplatz.
Im Kulturhaus Royal fand am 20. März 2019 die Premiere des UEK-Dokumentarfilms «Expertengespräche. Administrative Versorgungen und Wege der Rehabilitierung» mit anschliessender Podiumsdiskussion statt.
Während einer Woche stand die Ausstellung in St. Gallen in der Marktgasse beim Brunnen.
Im
Rahmen der Veranstaltungsreihe «Erfreuliche Universität» des Kulturlokals Palace organisierte die UEK am 2. April 2019 einen Vortrags- und Diskussionsabend zu
den rechtlichen Grundlagen der administrativen Versorgungen.