Transkript

 

«Wie Sie wissen, war ich damals seit drei Monaten Privathausbursche bei Direktors, machte daneben noch die Bibliothek und spielte des Sonntags Harmonium. Eines Tages wurde ich im WC beim Rauchen ertappt. (Es rauchen alle in Witzwil, obwohl es verboten ist, und der alte Direktor drückt beide Augen zu.) Diesmal war nur der Adjunkt, der älteste Sohn, anwesend. So wurde ich zur Strafe in meine Zelle gesperrt und bekam Cachot-Regime. Nun müssen Sie wissen, dass ich unzurechnungsfähig werde, sobald ich mich strafweise eingesperrt fühle. Wie soll ich es deutlicher erklären? Die Eisenstäbe, die geschlossene Tür, die mir sonst, bei Nacht, wenig Eindruck machten, bekommen dann eine andere Beleuchtung, die Luft wird dick, die Hoffnungslosigkeit hockt in den Ecken, kurz, mein ganzer Zustand wird psychotisch. Auch war ich damals noch in einer trostlosen Stimmung, ich hatte erfahren, mein Vormund habe meine Internierungszeit verlängern wollen, kurz, ich weiss selbst nicht mehr, wie es zuging: ich habe mich aufgehängt und bin nur durch Zufall abgeschnitten worden. Man hat mir nachher erzählt, der Missionär, der die Zellenvisiten alle 14 Tage macht, habe mich um 2 h nachmittags auf dem Boden liegend bewusstlos gefunden, habe mich aufs Bett gelegt und sei wieder fortgegangen. Als er nach einer Viertelstunde wiederkam, habe er mich durch den Spion an der Zellentür am Fenstergitter baumeln sehen, Hilfe herbeigerufen. Nach einer halben Stunde künstlicher Atmung sei wieder Leben in mich gekommen, aber ich sei zwei Nächte und einen Tag bewusstlos gelegen. Am Mittwoch, d. 16. Dezember, ist es geschehen, und am Freitag hat mich der Arzt flüchtig untersucht. Der alte Direktor hat dann sehr lieb mit mir gesprochen. Er hat auch die ganze Sache vertuscht, und mein Vormund hat nie etwas davon erfahren. Doch hatte mich die ganze Sache sehr aus dem Gleichgewicht gebracht. Ich arbeitete in der Buchbinderei, machte weiter die Bibliothek, aber ich war wirklich unbrauchbar geworden, manchmal zu lustig, manchmal konfus. Und so meinte der Direktor einmal, ich müsse versuchen, mich selbst wiederzufinden – es war wohl ein komplettes Verlorensein. Ich habe solche Zustände schon oft gehabt, es ist dann, als werde alles doppelt schmerzhaft in Frage gestellt, kein Halt ist mehr da, und ich versinke langsam. In solchen Zuständen habe ich dann gewöhnlich mit Narcoticis begonnen. Im Januar kam dann auch noch mein Vormund, und mir graust es noch heute, wenn ich an diese moralisch rülpsende Fettpuppe denke. Aber ich bin doch höflich geblieben. Man hätte meinen können, ich hätte mein ganzes Leben nur mit Schwindeleien und Ausbeutereien zugebracht. Fremdenlegion, Paris u.s.w. ignorierte er. [...] Ich habe mich gar nicht verteidigt. Meine grosse Freude war nur, dassn mir der alte Direktor nachher in seiner trockenen Art sagte: ‹Ir müent nüt Angscht ha, de wott Eu duernd versorgen. Aber mir lönd ois nüd bifehlen vo dene Zürcher Herren.› Und richtig hat er es auch durchgesetzt, dass ich nach einem Jahr entlassen wurde.»

 

kommentar

 

Der schon mehrfach in psychiatrischen Kliniken internierte Glauser war in Begleitung und unter Zustimmung seines Vaters am 19. April 1921 in die Fremdenlegion eingetreten; auch Vormund Schiller hielt dies für sinnvoll. Zwei Jahre später wurde Glauser aus der in Algerien stationierten Kolonialtruppe wegen Herzschwäche ausgemustert; er schilderte sein Leben dort im Roman «Gourrama». Glauser arbeitete dann in Paris als Casserolier und in Belgien als Bergmann, bis er nach einem Suizidversuch ausgewiesen und in die Schweiz heimgeschafft wurde. Die Berner Regierung versorgte ihn am 25. Juni 1925 für ein Jahr administrativ in der Strafanstalt Witzwil. Der dortige Direktor Otto Kellerhals behandelte den Häftling Glauser bevorzugt, während er andere Häftlinge hart disziplinierte. Kellerhals empfahl mit Brief vom 9. Januar 1926 dem Zürcher Amtsvormund Dr. iur. Walter Schiller, Glauser anschliessend freizulassen, was auch geschah.

Vormund Schiller hatte in seinem «2. Vormundschaftsbericht über den wegen lasterhaften Lebenswandels bevormundeten Friedrich Karl Glauser [...] vom 1. Januar 1920 bis 31. Dezember 1921» [1] die Meinung vertreten, bei einer Rückkehr Glausers von der Fremdenlegion sei «die dauernde Verwahrung in einer geschlossenen Anstalt» die angemessene vormundschaftliche Massnahme Glauser, obwohl er diesen im gleichen Bericht als «intellektuell gut entwickelten und literarisch sehr talentierten Menschen» beschrieb. Das Hauptlaster Glausers war die Morphiumsucht. Dass er zudem, statt zu studieren, in den Kreisen der Zürcher Dadaisten verkehrt hatte und Schulden machte, gab Vater Glauser Anlass, die  Entmündigung seines Sohnes zu beantragen. Diese wurde am 7. Februar 1918 von der Vormundschaftsbehörde Zürich verfügt, als Glauser 22-jährig war, und blieb bis zu dessen frühem Tod am 8. Dezember 1938 bestehen, somit auch in den Jahren seines literarischen Durchbruchs.

Hier steht weniger die gesamte Biografie oder das Werk Friedrich Glausers im Vordergrund [2]  als dessen Beschreibung seines Selbstmordversuchs in Witzwil. Glauser versuchte vorher und nachher noch weitere Male, sich umzubringen; er wurde immer gerettet. Das von ihm beschriebene «Cachot-Regime», der Auslöser dieser Krise, war die Einzelhaft in seine normale Zelle auch tagsüber und bei reduzierter Kost, nicht die Einsperrung in ein noch unkomfortableres Verlies ohne Fenster und Bett, das eigentliche Cachot. Glausers eindringliche Schilderung dieses Selbstmordversuchs ist ein wichtiger Beitrag zum Verständnis von Haftpsychosen, insbesondere in Isolationshaft, der Verlorenheit und Verzweiflung administrativ Internierter, die im Unterschied zu jenen, die gerichtlich festgesetzte Strafen abzusitzen hatten, nie wussten, wie lange sie eingesperrt blieben und wann sie   wieder auf freien Fuss kommen würden; sie mussten mit der Möglichkeit rechnen, lebenslänglich eingesperrt zu bleiben. Friedrich Glauser ist nie je vor Gericht gekommen für seine suchtbedingten Beschaffungsdelikte, aber er wurde jahrzehntelang interniert deswegen.

Glausers vorherige und auch seine späteren, teilweise mehrjährigen Internierungen wurden in psychiatrischen Kliniken vollzogen. Dort konnte er sich entweder illegal Zutritt zum Medikamentenlager und damit zu Morphium oder anderen Opiaten verschaffen. Oder er bekam seine Suchtmittel von Ärzten verschrieben, ausser während jener Klinik-Aufenthalten, die einem Entzug dienen sollten. In den Phasen, während welchen seine Zürcher Vormunde, der Nachfolger Schillers war Amtsvormund Dr. iur. Robert Schneider, ihn aus Anstalten herausliessen, riskierte Glauser Rezeptfälschung oder anderweitige Beschaffungskriminalität, worauf die Vormundschaft erneute Internierung verfügte, bis der Adressat dieses Briefes, der Psychiater Max Müller dem Süchtigen schliesslich legal Opiate verschrieb. Max Müller, ein Schweizer Pionier der problematischen, mit zahlreichen Todesfällen verbundenen, später wieder aufgegebenen Insulinschockkur, ist das Vorbild für die literarische Figur des Dr. Laduner in Glausers erfolgreichem Kriminal- und Irrenhausroman «Matto regiert», der 1936 publiziert wurde. Der damalige Adjunkt und Sohn des Gründungsdirektors Otto Kellerhals, Hans Kellerhals, wurde 1937 dessen Nachfolger und blieb Direktor in Witzwil bis 1963.

 

T. Huonker

 

 

Anmerkungen

 

[1] Stadtarchiv Zürich, V.J.c.13, Dossier 9578b

[2] Zur Biografie von Friedrich Glauser siehe Saner, Gerhard: Friedrich Glauser 1896-1938. Eine Biografie. 2 Bände, Zürich 1981; Göhre, Frank: Zeitgenosse Glauser. Zürich 1988; unter besonderer Berücksichtigung seiner Bevormundung und administrativen Versorgung siehe auch "Fallgeschichte Friedrich Glauser. Ob F. G. zu einer Sterilisation bereit wäre, wissen wir vorläufig noch nicht", in: Huonker, Thomas: Diagnose "moralisch defekt". Kastration, Sterilisation und Rassenhygiene im Dienst der Schweizer Sozialpolitik und Psychiatrie 1890-1970. Zürich 2003, S.64-78 (Vgl. auch die Abschnitte zu Glauser in Literatur und Versorgung in A2)

 

Angaben zur Quelle

 

Auszug aus dem Brief von Friedrich Glauser (1896-1938) an Dr. med. Max Müller, Psychiater im Irrenhaus Münsingen BE, vom 27. Juni 1926, in: Glauser, Friedrich: Briefe 1, Zürich 1988, S. 108-110