Bei der Bekämpfung von Alkoholismus stützten sich einige kantonale Gesetze auf Expertenwissen, um die administrative Versorgung von Alkoholkranken zu rechtfertigen. So beriefen sich die Initiatoren des waadtländischen Gesetzes «über die Versorgung von Alkoholikern» von 1906 auf die Thesen der Psychiater Auguste Forel und Albert Mahaim.

Kontext

Ab dem Ende des neunzehnten Jahrhunderts erliessen zahlreiche Schweizer Kantone spezifische Rechtsvorschriften zum Alkoholismus, der damals als ein gesundheitliches und soziales «Übel» erachtet wurde. Sie folgten damit einer Geistesströmung, die in allen westlichen Ländern anzutreffen war. Die meisten kantonalen Gesetze sahen einerseits steuerliche und administrative Massnahmen zur Regelung der Herstellung und des Vertriebs alkoholischer Getränke vor. Andererseits umfassten sie auch repressive Massnahmen gegen Menschen, die der Gesetzgeber als «Säufer» und «Gewohnheitstrinker» bezeichnete.

Eine Reihe von Kantonen, unter anderem die Kantone Thurgau und Waadt, erarbeiteten zusammen mit Fachleuten prophylaktische Massnahmen, die auf Alkoholabhängige angewandt werden konnten. Die Verfasser des Waadtländer Gesetzes vom 27. November 1906 «über die Versorgung von Alkoholikern» bezogen sich explizit auf das von den Psychiatern Auguste Forel (1848–1931) und Albert Mahaim (1867–1925) gemeinsam verfasste Werk «Crime et anomalies mentales constitutionnelles» (1902). Die Prinzipien aus diesem Buch wollten sie im neuen Gesetz anwenden.

 

Inhalt

Der Schweizer Gehirnforscher und Psychiatrieprofessor August Forel absolvierte seine Ausbildung an den Universitäten Zürich, Wien und München. Später leitete er die Psychiatrische Universitätsklinik Zürich (Burghölzli). Um die Wende zum 20. Jahrhundert herum hatte sich Auguste Forel als einer der bedeutendsten Theoretiker und Praktiker in Sachen Alkoholismusbekämpfung in der Schweiz etabliert. So wirkte er insbesondere an der Gründung der Trinkerheilstätte Ellikon an der Thur mit (1888).

Forel war ein Verfechter der These der Rassenhygiene und er lehnte sich an die von Cesare Lombroso (1835-1909) begründete Kriminalanthropologie und an die Theorie vom «geborenen Verbrecher» an. Seiner Meinung nach gab es «konstitutionelle Seelenabnormitäten» und angeborene und ererbte «Makel», in denen zahlreiche Verbrechen ihren Ursprung hätten.

Mit ihrem 1902 veröffentlichen Werk trugen Auguste Forel und Albert Mahaim, der leitende Arzt der Anstalt für Geisteskranke in Cery (Waadt), zur wissenschaftlichen Konzeption des «Alkoholikers» bei. Zu jener Zeit galten Alkoholiker als eine «gesellschaftliche Plage», eine Gefahr für ihre Angehörigen, für die Gesellschaft, in der sie lebten, und für die «Rasse», die sie zeugten. Forel und Mahaim lieferten einen Rechtsfertigungsgrund für die administrative Versorgung, indem sie sich dafür aussprachen, dass jeder «Trinker», der als behandelbar gelte – aus eigenem Antrieb oder unter Zwang – durch Abstinenz geheilt werden müsse, so wie auch «Geisteskranke» behandelt würden. Der «betrunkene Psychopath» hingegen, der als unheilbar gelte, müsse in seiner Handlungsfreiheit eingeschränkt werden, sei es, dass er in eine geeignete und spezielle Anstalt eingewiesen oder unter Vormundschaft und polizeiliche Aufsicht gestellt werde. Damit diese Form der Verwahrung jedoch nicht mit einer gerichtlichen Verurteilung assoziiert werde, sollte die Versorgung «rein administrativer Art und zum öffentlichen und persönlichen Wohl» sein.

 

Ansätze

Die Quelle zeigt auf, welchen Wissensstand die zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der Schweiz massgebenden Psychiater hatten und welche Lösungsansätze sie zur Bekämpfung von Alkoholismus befürworteten. Die Verfasser des Waadtländer Gesetzes «über die Versorgung von Alkoholikern» von 1906 beriefen sich auf die Arbeiten von Mahaim und Forel. Es ist allerdings noch nicht geklärt, wie weit sich der Gesetzgeber tatsächlich von den Thesen dieser Psychiater inspirieren liess und wie er sie verstanden hat. Deshalb müssen die erlassenen rechtlichen Bestimmungen sorgfältig mit den im Werk «Crime et anomalies mentales constitutionnelles» dargelegten Thesen verglichen werden.

Im weiteren Sinn wirft dieses Quellenbeispiel die Frage auf, wie Expertenwissen und politische Legitimation der administrativen Versorgungen zusammenhingen. Die Authentizität, die Gültigkeit und die Verwendung einer wissenschaftlichen Erkenntnis zu politischen Zwecken müssen systematisch geprüft werden.

 

L. Maugué/Übersetzung

 

Angaben zur Quelle

Forel, Auguste; Mahaim, Albert: Crime et anomalies mentales constitutionnelles. La plaie sociale des déséquilibrés à responsabilité diminuée, Genève, Kündig, 1902.